1977 veröffentlichte Ronald Inglehart sein weithin gefeiertes Buch „Die stille Revolution“, in dem er darlegte, dass sich im Westen eine „stille Revolution“ ereigne, die diesen von Grund auf verändere.[1] Der beispiellose Wohlstand, den die westlichen Nationen während des Kalten Kriegs und angesichts des Ausbleibens eines totalen Kriegs erfahren durften, trug laut Inglehart zu einem schrittweisen Transformationsprozess von materialistischen individuellen Werten zu postmaterialistischen bei. Sobald die Bedürfnisse des physischen Überlebens gestillt sind, beginnen Menschen ihre Bedürfnisse nach Liebe, Zugehörigkeit und Wertschätzung zu stillen. Damit rückt die Bedeutung „intellektueller und ästhetischer Zufriedenheit“ bzw. sog. postmaterialistischer Werte ins Zentrum. In der politischen Sphäre wurde die „stille Revolution“ laut Inglehart von zwei bedeutenden Trends unterstützt: 1) „Eine Verlagerung von einem überwiegenden Schwerpunkt auf Materialverbrauch und Sicherheit hin zu einer größeren Sorge um die Lebensqualität“; und 2) „eine Zunahme an politischen Fähigkeiten in den westlichen Öffentlichkeiten, die es ihnen erlaubte, eine aktivere Rolle beim Fällen wichtiger politischer Entscheidungen zu spielen.“[2] Natürlich waren die Postmaterialisten nur eine Minderheit in den westlichen Gesellschaften, aber wohl die am besten ausgebildete und aktivste in der Politik. Postmaterialisten waren auch die zentrale treibende Kraft bei der europäischen Integration und bei der Förderung einer kosmopolitischen Identität.
Aber es gab auch eine „stille Gegenrevolution“. Laut Piero Ignazi ist in den 1980er Jahren - vor dem Hintergrund „einer wachsenden Unzufriedenheit mit dem politischen System und einem korrespondierenden Vertrauensverlust in dessen Effizienz“[3] - eine neue Bewegung in Europa entstanden, die gleichzeitig Folge und Gegenreaktion der stillen Revolution der Postmaterialisten sei. Diese Bewegung war mit dem Aufstieg eines neuen Typs rechtsradikaler Parteien verbunden, die sich von den faschistischen Organisationen der Zwischenkriegszeit und den neo-faschistischen Parteien der Nachkriegszeit unterschieden. Im Gegensatz zum „postmaterialistischen Optimismus“ und Kosmopolitismus der mutmaßlich fortschrittlichen stillen Revolution forderten die stillen Gegenrevolutionäre die Durchsetzung von Recht und Gesetz sowie eine striktere Einwanderungskontrolle. Die neuen rechtsradikalen Parteien lehnten Multikulturalismus ab und insistieren auf einem aktiven Schutz dessen, was sie als traditionelle nationale oder europäische Werte ansahen. Aber trotz manchmal bedeutender Wahlerfolge in den 1990er Jahren blieb die extreme Rechte überwiegend in der Opposition. Inzwischen hat sich jedoch die Situation verändert und die Gegenrevolutionäre, die den liberalen demokratischen Konsens bekämpfen, erscheinen nicht mehr länger als still.
Gründe für den Aufstieg der Rechtsradikalen
Um diese Veränderungen zu verstehen, ist es wichtig, kurz zwei relativ junge politische Phänomene zu diskutieren, die beide die Unfähigkeit oder sogar den Unwillen moderner demokratischer Kräfte widerspiegeln, große politische Zukunftsvisionen des Westens und der Welt zu artikulieren.
Das erste Phänomen sind die Catch-all-Parteien, die in der außergewöhnlichen Friedensperiode der westlichen kapitalistischen Welt während des Kalten Kriegs verwurzelt sind. Das europäische Nachkriegsintegrationsprojekt zielte ausdrücklich auf die Verhinderung von Konflikten zwischen den europäischen Staaten, die nicht Teil des sozialistischen Blocks waren. Das Vermeiden von militärischen Konflikten gelang in der Tat, auch bedingt durch die Tatsache, dass die Mehrheit der kapitalistischen europäischen Länder Mitglieder der NATO war. Das Gefühl von Sicherheit und die Wahrnehmung von Frieden als Dauerzustand trugen zum Aufstieg der Postmaterialisten, aber auch zum Entstehen von Catch-all-Parteien bei. 1966 beschrieb Otto Kirchheimer die Catch-all-Parteien als im Wesentlichen massenbasierte, auf Wahlen ausgerichtete Organisationen, die nicht eine bestimmte gesellschaftliche Gruppe ansprechen, sondern die Gesellschaft als Ganzes.[4] Aufgrund des liberal-demokratischen Konsenses in weiten Teilen des kapitalistischen Westens unterschieden sich die Catch-all-Parteien im ideologischen Sinne geringfügig und brachten immer weniger große Ideen hervor, so dass bereits in den 1970er Jahren soziale Bewegungen „den politischen Parteien der Linken wie Rechten vorwarfen, ohne Visionen zu agieren“.[5]
Gleichzeitig ermöglichte die ausgedehnte Friedenszeit des Kalten Kriegs den Aufstieg eines weiteren Phänomens: postmoderne Politik. Diese verzichtete auf ideologische Meistererzählungen, wie z.B. Liberalismus und Marxismus, und machte geltend, dass nicht mehr die eine politische Wahrheit existiere, sondern nur individuelle Standpunkte bei der Interpretation von multiplen „Realitäten“. Große Visionen und hochfliegende Ideen waren nicht zwingend ein unverzichtbares Instrument von Catch-all-Parteien bei der Wählermobilisierung, den politischen Postmodernisten waren diese jedoch ein Gräuel.
Catch-all-Parteien wie politische Postmodernisten haben bis zu einem gewissen Grad den fruchtbaren Boden zum Aufstieg der Rechtsradikalen in den 1990er Jahren und insbesondere in den 2000er Jahren bereitet. Erstere trugen zur vermehrten Wahrnehmung der liberalen Demokratie als Projekt einiger Ausgewählter bei, die angeblich den Bezug zum gemeinen Volk verloren haben. Liberale Demokratie war für viele in Europa nicht nur einfach eine Ideologie oder eine Regierungsform, sondern sie wurde zunehmend zu einem gefühlten Symbol der Ungleichheit oder sogar zum Inbegriff von deren Ursachen.
Auf der anderen Seite trugen auch die politischen Postmodernisten durch ihre Angriffe auf die Grundlagen des liberalen Denkens zur Schwächung des liberal-demokratischen Nachkriegskonsenses bei. Politischer Postmodernismus war ein hervorstechendes Element der sog. Rückkehr der Realpolitik in den 2000er Jahren: Diese ging davon aus, dass sowohl die Beziehungen zwischen den westlichen Staaten als auch zwischen der westlichen Welt und den nicht westlichen Ländern nicht durch moralische Werte, sondern durch moralischen Relativismus, nicht durch die liberalen Prinzipien von Gerechtigkeit, Menschenrechten und Freiheit, sondern durch pragmatische Überlegungen und individuelle nationale Interessen geregelt werden können, da die liberale Demokratie nur eine unter vielen Regierungsformen sei. Mit anderen Worten: Innerhalb des Diskurses postmoderner Realpolitik sollen die internationalen Beziehungen durch augenblickliche Bewertungen der fließenden und kontextabhängigen „Realitäten“ geregelt werden. Mit Blick auf die internen Entwicklungen im Westen wirkte dieses Prinzip wie Gift, seine Umsetzung führte zur Aushöhlung der Solidarität unter den westlichen Staaten und zum Anwachsen des Isolationismus.
Neue und alte Rechte
Als das liberal fortschrittliche „Ende der Geschichte“ mit den terroristischen Attacken von Al-Qaida auf die USA im September 2001 endete, erschien der kollektive Westen trotz seiner militärischen und ökonomischen Überlegenheit schwach, was den philosophischen und ideologischen Widerstand gegen die Herausforderungen betrifft, die von den Feinden der liberalen Demokratie gestellt worden waren. Es wurde vielmehr noch schlimmer: Die globale Finanzkrise von 2008/09 und die Folgen der großen Rezession (der schlimmsten seit dem Zweiten Weltkrieg) und die Austeritätspolitik untergruben die ökonomische Überlegenheit des Westens. In jüngerer Zeit haben islamistische Terrorattacken und die Furcht vor ihnen, die Migrations- und Flüchtlingskrise, die Sparpolitik, die Krise der Eurozone und der wahrgenommene Mangel an wirksamer Führung ein Umfeld erzeugt, das isolationistisches Denken noch begünstigt. Angesicht des Rückzugs des liberalen Progressivismus und nur weniger artikulierter globaler Visionen beginnen viele Bürger westlicher Nationen Zuflucht bei lokalen, regionalen, nationalen und religiösen Identitäten zu suchen.
Die extreme Rechte hat die Gelegenheit genutzt, die sich ihr durch das Ausbreiten politischer, wirtschaftlicher, kultureller und existenzieller Ängste im Westen bietet. Im Gegensatz zu den intellektuell ausgelaugten liberalen Demokraten verfügt sie über die Fähigkeit, alternative globale Visionen für die Weltordnung anzubieten. Und im Gegensatz zu den politischen Postmodernisten lehnt sie die Idee von multiplen „Realitäten“ ab - für sie existiert nur eine einzige Wirklichkeit und sie ist bereit, Stellung zu beziehen.
Aber auch wenn die extreme Rechte im letzten Jahrzehnt offenkundig an Dynamik gewonnen hat, waren es nicht die rechtsradikalen Parteien, die zum Inbegriff der nicht mehr länger stillen Gegenrevolution wurden. Vielmehr sind dies der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán und sein Versprechen eines „illiberalen Staats“, die harsche Antimigranten-Rhetorik des tschechischen Präsidenten Miloš Zeman, der slowakische Ministerpräsident Robert Fico oder der Anführer der polnischen Regierungspartei „Recht und Gerechtigkeit“, Jarosław Kaczyński. Dazu kommen das Brexit-Referendum, das „Rassismus salonfähig gemacht“[6] und zu einem Anstieg von Hassverbrechen im Vereinigten Königreich geführt hat. Des Weiteren sind die Beschwichtigungspolitik von Präsident Vladimir Putins rechtsautoritärem Regime nach der russischen Invasion in der Ukraine und die Popularität des rassistischen US-Präsidentenkandidaten Donald Trump zu nennen.
Bei seinem Treffen mit Jarosław Kaczyński im September 2016 erklärte Viktor Orbán, dass „der Brexit eine fantastische Gelegenheit“ sei - „eine historische kulturelle Bewegung“, die „eine kulturelle Gegenrevolution“ ermögliche.[7] Kaczyński erwiderte, dass sie die Initiative ergreifen und die EU verändern müssten. Zwar könnte man Orbáns und Kaczyńskis Idee einer Gegenrevolution lediglich als Dezentralisierung der EU und Übertragen von mehr Macht an die nationalen Parlamente interpretieren, doch lässt sich nicht übersehen, dass beide die europäischen Nationen als ethnisch und religiös homogene Einheiten ansehen. Ihre Parteien nutzen geschickt ethnischen und religiösen Nationalismus zur Wählermobilisierung aus. Und nachdem Orbán und Kaczyński an die Macht gelangt sind, haben beide Schritte unternommen, um sich die volle Kontrolle über ihre jeweiligen Länder zu sichern, indem sie deren Institutionen, insbesondere die Verfassungsgerichte und die öffentlich-rechtlichen Medien, umgestaltet und herabgestuft haben.
Während die rechtsradikalen Parteien - trotz der laufenden Deradikalisierung - noch darum kämpfen, sich als legitimen und respektablen Teil des politischen Prozesses darzustellen, müssen weder Orbán noch Kaczyński oder Zeman oder Trump oder die Anführer der „Leave the EU“-Kampagne im Vereinigten Königreich die politische Eignung ihrer Ideen beweisen, obwohl sie Ultranationalismus und Populismus kombinieren - ideologische Elemente, die als wesentliche Bestandteile der rechtsradikalen Ideologie gelten.[8] Im Gegensatz zu den traditionellen Parteien der extremen Rechte, wie z.B. die FPÖ in Österreich, die ungarische Jobbik, der Front National in Frankreich oder die italienische Lega Nord, können die „Mainstream“-Gegenrevolutionäre wie Orbán oder Kaczyński zudem auf Ressourcen zurückgreifen, die den traditionellen radikalen Rechtspopulisten unzugänglich sind, und eine Politik verfolgen, die sich nicht groß von derjenigen unterscheidet, die vom Front National oder Jobbik praktiziert würde, wenn sie an die Macht kommen sollten.
In den 1980er und 1990er Jahren führten die rechtsradikalen Parteien die stille Gegenrevolution gegen die liberale Demokratie an, aber im neuen Jahrhundert nutzen größtenteils nationalkonservative Mainstream-Politiker die Gelegenheit, die sich ihnen durch den philosophisch sterilen politischen Raum bietet, der von ideologisch „ausgelaugten“ Volksparteien und zynischen politischen Postmodernisten geschaffen wurde. Diese Politiker sind nicht nur in der Lage, den westlichen liberal-demokratischen Nachkriegskonsens dramatisch zu schwächen, sondern auch die internationale Sicherheitsarchitektur zu gefährden.
Anmerkungen
1) Inglehart, Ronald: The Silent Revolution: Changing Values and Political Styles among Western Publics. Princeton 1977.
2) Ebd., S. 363.
3) Ignazi, Piero: The Silent Counter-Revolution: Hypotheses on the Emergence of Extreme Right-wing Parties in Europe. In: European Journal of Political Research 22, 1 (1992), S. 3-34, hier S. 24.
4) Kirchheimer, Otto: The Transformation of Western European Party Systems. In: LaPalombara, Joseph; Weiner, Myron (eds.): Political Parties and Political Development. Princeton 1966, S. 177-200.
5) Aronowitz, Stanley: Postmodernism and Politics. In: Social Text 18 (1987/88), S. 99-115, hier S. 101.
6) http://www.irr.org.uk/email/brexit-and-xeno-racism-help-us-to-build-the-national-picture/.
7) http://www.ft.com/cms/s/0/e825f7f4-74a3-lle6-bf48-b372cdbl043a.html.
8) Mudde, Cas: Populist Radical Right Parties in Europe. Cambridge 2007, S. 22-23.
Übersetzung aus dem Englischen: Stefan Kube.
Religion& Gesellschaft in Ost und West, 9-10 (2016), S. 9-10.
Aber es gab auch eine „stille Gegenrevolution“. Laut Piero Ignazi ist in den 1980er Jahren - vor dem Hintergrund „einer wachsenden Unzufriedenheit mit dem politischen System und einem korrespondierenden Vertrauensverlust in dessen Effizienz“[3] - eine neue Bewegung in Europa entstanden, die gleichzeitig Folge und Gegenreaktion der stillen Revolution der Postmaterialisten sei. Diese Bewegung war mit dem Aufstieg eines neuen Typs rechtsradikaler Parteien verbunden, die sich von den faschistischen Organisationen der Zwischenkriegszeit und den neo-faschistischen Parteien der Nachkriegszeit unterschieden. Im Gegensatz zum „postmaterialistischen Optimismus“ und Kosmopolitismus der mutmaßlich fortschrittlichen stillen Revolution forderten die stillen Gegenrevolutionäre die Durchsetzung von Recht und Gesetz sowie eine striktere Einwanderungskontrolle. Die neuen rechtsradikalen Parteien lehnten Multikulturalismus ab und insistieren auf einem aktiven Schutz dessen, was sie als traditionelle nationale oder europäische Werte ansahen. Aber trotz manchmal bedeutender Wahlerfolge in den 1990er Jahren blieb die extreme Rechte überwiegend in der Opposition. Inzwischen hat sich jedoch die Situation verändert und die Gegenrevolutionäre, die den liberalen demokratischen Konsens bekämpfen, erscheinen nicht mehr länger als still.
Gründe für den Aufstieg der Rechtsradikalen
Um diese Veränderungen zu verstehen, ist es wichtig, kurz zwei relativ junge politische Phänomene zu diskutieren, die beide die Unfähigkeit oder sogar den Unwillen moderner demokratischer Kräfte widerspiegeln, große politische Zukunftsvisionen des Westens und der Welt zu artikulieren.
Das erste Phänomen sind die Catch-all-Parteien, die in der außergewöhnlichen Friedensperiode der westlichen kapitalistischen Welt während des Kalten Kriegs verwurzelt sind. Das europäische Nachkriegsintegrationsprojekt zielte ausdrücklich auf die Verhinderung von Konflikten zwischen den europäischen Staaten, die nicht Teil des sozialistischen Blocks waren. Das Vermeiden von militärischen Konflikten gelang in der Tat, auch bedingt durch die Tatsache, dass die Mehrheit der kapitalistischen europäischen Länder Mitglieder der NATO war. Das Gefühl von Sicherheit und die Wahrnehmung von Frieden als Dauerzustand trugen zum Aufstieg der Postmaterialisten, aber auch zum Entstehen von Catch-all-Parteien bei. 1966 beschrieb Otto Kirchheimer die Catch-all-Parteien als im Wesentlichen massenbasierte, auf Wahlen ausgerichtete Organisationen, die nicht eine bestimmte gesellschaftliche Gruppe ansprechen, sondern die Gesellschaft als Ganzes.[4] Aufgrund des liberal-demokratischen Konsenses in weiten Teilen des kapitalistischen Westens unterschieden sich die Catch-all-Parteien im ideologischen Sinne geringfügig und brachten immer weniger große Ideen hervor, so dass bereits in den 1970er Jahren soziale Bewegungen „den politischen Parteien der Linken wie Rechten vorwarfen, ohne Visionen zu agieren“.[5]
Gleichzeitig ermöglichte die ausgedehnte Friedenszeit des Kalten Kriegs den Aufstieg eines weiteren Phänomens: postmoderne Politik. Diese verzichtete auf ideologische Meistererzählungen, wie z.B. Liberalismus und Marxismus, und machte geltend, dass nicht mehr die eine politische Wahrheit existiere, sondern nur individuelle Standpunkte bei der Interpretation von multiplen „Realitäten“. Große Visionen und hochfliegende Ideen waren nicht zwingend ein unverzichtbares Instrument von Catch-all-Parteien bei der Wählermobilisierung, den politischen Postmodernisten waren diese jedoch ein Gräuel.
Catch-all-Parteien wie politische Postmodernisten haben bis zu einem gewissen Grad den fruchtbaren Boden zum Aufstieg der Rechtsradikalen in den 1990er Jahren und insbesondere in den 2000er Jahren bereitet. Erstere trugen zur vermehrten Wahrnehmung der liberalen Demokratie als Projekt einiger Ausgewählter bei, die angeblich den Bezug zum gemeinen Volk verloren haben. Liberale Demokratie war für viele in Europa nicht nur einfach eine Ideologie oder eine Regierungsform, sondern sie wurde zunehmend zu einem gefühlten Symbol der Ungleichheit oder sogar zum Inbegriff von deren Ursachen.
Auf der anderen Seite trugen auch die politischen Postmodernisten durch ihre Angriffe auf die Grundlagen des liberalen Denkens zur Schwächung des liberal-demokratischen Nachkriegskonsenses bei. Politischer Postmodernismus war ein hervorstechendes Element der sog. Rückkehr der Realpolitik in den 2000er Jahren: Diese ging davon aus, dass sowohl die Beziehungen zwischen den westlichen Staaten als auch zwischen der westlichen Welt und den nicht westlichen Ländern nicht durch moralische Werte, sondern durch moralischen Relativismus, nicht durch die liberalen Prinzipien von Gerechtigkeit, Menschenrechten und Freiheit, sondern durch pragmatische Überlegungen und individuelle nationale Interessen geregelt werden können, da die liberale Demokratie nur eine unter vielen Regierungsformen sei. Mit anderen Worten: Innerhalb des Diskurses postmoderner Realpolitik sollen die internationalen Beziehungen durch augenblickliche Bewertungen der fließenden und kontextabhängigen „Realitäten“ geregelt werden. Mit Blick auf die internen Entwicklungen im Westen wirkte dieses Prinzip wie Gift, seine Umsetzung führte zur Aushöhlung der Solidarität unter den westlichen Staaten und zum Anwachsen des Isolationismus.
Neue und alte Rechte
Als das liberal fortschrittliche „Ende der Geschichte“ mit den terroristischen Attacken von Al-Qaida auf die USA im September 2001 endete, erschien der kollektive Westen trotz seiner militärischen und ökonomischen Überlegenheit schwach, was den philosophischen und ideologischen Widerstand gegen die Herausforderungen betrifft, die von den Feinden der liberalen Demokratie gestellt worden waren. Es wurde vielmehr noch schlimmer: Die globale Finanzkrise von 2008/09 und die Folgen der großen Rezession (der schlimmsten seit dem Zweiten Weltkrieg) und die Austeritätspolitik untergruben die ökonomische Überlegenheit des Westens. In jüngerer Zeit haben islamistische Terrorattacken und die Furcht vor ihnen, die Migrations- und Flüchtlingskrise, die Sparpolitik, die Krise der Eurozone und der wahrgenommene Mangel an wirksamer Führung ein Umfeld erzeugt, das isolationistisches Denken noch begünstigt. Angesicht des Rückzugs des liberalen Progressivismus und nur weniger artikulierter globaler Visionen beginnen viele Bürger westlicher Nationen Zuflucht bei lokalen, regionalen, nationalen und religiösen Identitäten zu suchen.
Die extreme Rechte hat die Gelegenheit genutzt, die sich ihr durch das Ausbreiten politischer, wirtschaftlicher, kultureller und existenzieller Ängste im Westen bietet. Im Gegensatz zu den intellektuell ausgelaugten liberalen Demokraten verfügt sie über die Fähigkeit, alternative globale Visionen für die Weltordnung anzubieten. Und im Gegensatz zu den politischen Postmodernisten lehnt sie die Idee von multiplen „Realitäten“ ab - für sie existiert nur eine einzige Wirklichkeit und sie ist bereit, Stellung zu beziehen.
Aber auch wenn die extreme Rechte im letzten Jahrzehnt offenkundig an Dynamik gewonnen hat, waren es nicht die rechtsradikalen Parteien, die zum Inbegriff der nicht mehr länger stillen Gegenrevolution wurden. Vielmehr sind dies der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán und sein Versprechen eines „illiberalen Staats“, die harsche Antimigranten-Rhetorik des tschechischen Präsidenten Miloš Zeman, der slowakische Ministerpräsident Robert Fico oder der Anführer der polnischen Regierungspartei „Recht und Gerechtigkeit“, Jarosław Kaczyński. Dazu kommen das Brexit-Referendum, das „Rassismus salonfähig gemacht“[6] und zu einem Anstieg von Hassverbrechen im Vereinigten Königreich geführt hat. Des Weiteren sind die Beschwichtigungspolitik von Präsident Vladimir Putins rechtsautoritärem Regime nach der russischen Invasion in der Ukraine und die Popularität des rassistischen US-Präsidentenkandidaten Donald Trump zu nennen.
Viktor Orbán and Miloš Zeman |
Während die rechtsradikalen Parteien - trotz der laufenden Deradikalisierung - noch darum kämpfen, sich als legitimen und respektablen Teil des politischen Prozesses darzustellen, müssen weder Orbán noch Kaczyński oder Zeman oder Trump oder die Anführer der „Leave the EU“-Kampagne im Vereinigten Königreich die politische Eignung ihrer Ideen beweisen, obwohl sie Ultranationalismus und Populismus kombinieren - ideologische Elemente, die als wesentliche Bestandteile der rechtsradikalen Ideologie gelten.[8] Im Gegensatz zu den traditionellen Parteien der extremen Rechte, wie z.B. die FPÖ in Österreich, die ungarische Jobbik, der Front National in Frankreich oder die italienische Lega Nord, können die „Mainstream“-Gegenrevolutionäre wie Orbán oder Kaczyński zudem auf Ressourcen zurückgreifen, die den traditionellen radikalen Rechtspopulisten unzugänglich sind, und eine Politik verfolgen, die sich nicht groß von derjenigen unterscheidet, die vom Front National oder Jobbik praktiziert würde, wenn sie an die Macht kommen sollten.
In den 1980er und 1990er Jahren führten die rechtsradikalen Parteien die stille Gegenrevolution gegen die liberale Demokratie an, aber im neuen Jahrhundert nutzen größtenteils nationalkonservative Mainstream-Politiker die Gelegenheit, die sich ihnen durch den philosophisch sterilen politischen Raum bietet, der von ideologisch „ausgelaugten“ Volksparteien und zynischen politischen Postmodernisten geschaffen wurde. Diese Politiker sind nicht nur in der Lage, den westlichen liberal-demokratischen Nachkriegskonsens dramatisch zu schwächen, sondern auch die internationale Sicherheitsarchitektur zu gefährden.
Anmerkungen
1) Inglehart, Ronald: The Silent Revolution: Changing Values and Political Styles among Western Publics. Princeton 1977.
2) Ebd., S. 363.
3) Ignazi, Piero: The Silent Counter-Revolution: Hypotheses on the Emergence of Extreme Right-wing Parties in Europe. In: European Journal of Political Research 22, 1 (1992), S. 3-34, hier S. 24.
4) Kirchheimer, Otto: The Transformation of Western European Party Systems. In: LaPalombara, Joseph; Weiner, Myron (eds.): Political Parties and Political Development. Princeton 1966, S. 177-200.
5) Aronowitz, Stanley: Postmodernism and Politics. In: Social Text 18 (1987/88), S. 99-115, hier S. 101.
6) http://www.irr.org.uk/email/brexit-and-xeno-racism-help-us-to-build-the-national-picture/.
7) http://www.ft.com/cms/s/0/e825f7f4-74a3-lle6-bf48-b372cdbl043a.html.
8) Mudde, Cas: Populist Radical Right Parties in Europe. Cambridge 2007, S. 22-23.
Übersetzung aus dem Englischen: Stefan Kube.
Religion& Gesellschaft in Ost und West, 9-10 (2016), S. 9-10.